Laager Erinnerungen

Eine Zeitreise durch Laage

Eine Speckseite für die Seele

Von Margarethe Wilkens, geb. Palmer

Es war am 2. Mai 1945. Tags zuvor waren die russischen Panzer in unser Städtchen gerollt, gefolgt von schießenden und marodierenden Soldaten. Die erste Nacht lag hinter uns. Ich, damals 15- jährig, bekam von allem Geschehen nicht allzu viel mit.

Meine Eltern, sie hatten wohl nur vorübergehend erwogen mir die Haare abzuschneiden und mich in Jungsklamotten zu stecken, verbargen mich mit vier weiteren jungen Mädchen im hintersten Winkel unseres obersten Bodens. Einen gewissen Schutzschild bildeten zwei russische Offiziere, die gleich neben der Haustür campierten, und zwar in der Essstube. Zwei deutsche Frauen hatten sich den beiden Offizieren angeschlossen. Gegen Mittag die Hiobsbotschaft: Das ganze Pfarrhaus muss geräumt werden! Der nachrückende russische Generalstab brauchte eine ausreichend große Unterkunft für mindestens eine Nacht.

Wohin? Wohin mit all den vielen Menschen? Der Organist bot uns Unterschlupf in seiner Wohnung an, aber das reichte ja bei weitem nicht aus! Was blieb uns? Die Kirche! Sie verfügte über eine geräumige und nicht ganz so ausgekühlte Sakristei. Mit diesem Ziel machten wir uns auf den Weg. In dunkle Tücher gehüllt und im Vorgriff auf mein heutiges Aussehen, gebeugt und krumm, hinkte ich an einem Krückstock mitten drin. Da hockten wir dann auf den Konfirmandenbänken. Nur die beiden Jüngsten, Gerold und Michael, die Flüchtlingsjungs, fanden es höchst lustig und abenteuerlich, sich auf einer Babymatratze einzurichten. Für ihre hochschwangere Mutter (bzw. Tante, Eleonore Diening) und für meinen schwerkriegsversehrten Vater wurden die Hochzeitssessel hinter dem Altar hervorgeholt.

Womit mögen wir uns die Zeit vertrieben haben? Ich weiß es nicht mehr. Mir hat sich nur diese ungeheure Enge eingeprägt, zählten wir doch nicht weniger als 45 Leute! Immer wieder kamen einzelne Russen in die Kirche. Meine Mutter wehrte sie erfolgreich ab, nur ein besonders wild aussehender drang bis zur Sakristeitür vor, warf einen Blick durch die Glasscheibe und konnte es wohl selbst nicht fassen, was er dort sah. Was mochte in ihm vorgegangen sein? Die unbeholfene Frage, ob wir denn zu essen hätten, konnte meine Mutter nur verneinen. Er verschwand. Nach nicht allzu langer Zeit erschien er wieder, unter dem Arm, in ein sauberes Handtuch gewickelt, eine große Seite fetten Speck! „Da, Frau!“

Wieviel sie uns in jenem Moment genutzt hat, erinnre ich mich nicht mehr, aber diese eindrückliche Geste war Nahrung für unsere verstörten Herzen und später gewiss längere Zeit Bereicherung unserer kargen Mahlzeiten.

Hier ein Bild meiner Mutter beim Kartoffel-

 sammeln in späteren Jahren

Für die Nacht fand meine Mutter damals in der Sakristei keinen Platz mehr. Sie lag in der Kirche vor dem Altar, aber schreiende Kinder von noch anderen schutzsuchenden Leuten, ließen sie die zweite Nacht zwischen diesen aufregenden Tagen nicht zur Ruhe kommen. Am nächsten Tag klappte sie zusammen. Doch wir konnten zurück in unser Haus. Das dort herrschende Chaos ließ sich nicht beschreiben. Allein 51 fremde Stühle fanden wir vor. Alles war durchgewühlt und von allem was fehlte, schmerzte am meisten der Verlust der Fahrräder und meiner Geige! Unser Geldschrank lag gesprengt auf dem Hof. Er war leer gewesen. Die sonst darin aufbewahrten sehr kostbaren Abendmahlsgeräte ruhten wohl verborgen unter dem Kopfsteinpflaster unseres alten Holzstalles. Mein Bruder Ludwig erzählte später von seiner großen Verwunderung, dass er das noch gar nicht fertig getrocknete Holz von der Miete auf dem Hof schon in den Stall bringen sollte! So blieb auch unser Silberzeug unter den Backsteinen des Kartoffelkellers unentdeckt.

Im Garten hatten die Russen alle von Nachbarn und Flüchtlingen noch verborgenen Kisten und Koffer mit langen Degen oder Stangen „ertastet“, ausgebuddelt und völlig leer geplündert. Übriggebliebenes und die Stühle boten wir in einer großen Ausstellung feil.

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