Laager Erinnerungen

Eine Zeitreise durch Laage

Eine skurrile Geschichte, die sich am 01.05.1945 zugetragen haben soll

Diese Geschichte ist in der Chronik von Peter Zeese wie folgt betitelt: „Eine couragierte Frau“. Die Urquelle dieser Geschichte ist eine Niederschrift von Lotti Possehl, die in der Nähe der ehemaligen Tankstelle, am Ausgang der Stadt Laage in Richtung Teterow wohnte.

Erster Mai 1945. Es war ein herrlicher Sommertag in Mecklenburg. Und doch: Totenstill ist es in Laage, unheimlich still. Als wenn ein Unheil in der Luft liegt! Weiße Fahnen liegen in der ganzen Stadt auf den Straßen, Stahlhelme, Kisten und Kasten, allerhand Zeug, zumeist von zusammengebrochenen oder liegengeblieben Trecks. Soeben sind einige Volkssturmmänner vom Rathaus in die Teterower Straße gelaufen und reißen die dort aufgehängten weißen Fahnen herunter. Es sind nur einige wenige ältere Männer, dazu noch ein paar Hitlerjungen, so etwa 15 Jahre alt. Das Rasseln der Ketten von russischen Panzern ist bereits hörbar. Am Stadtrand, an der Tankstelle am Anfang der Straße sind schon zwei in Stellung gegangen, die Vorhut. Sie halten dort inne, haben sie doch davon Wind bekommen, dass die kleine Stadt noch verteidigt werden soll. Im Nachbarhaus, gleich neben der Tankstelle, sitzt Familie Possehl ängstlich im Keller. Kein Wort geht ihnen über die Lippen, die Herzen schlagen bis zum Halse hinauf. Jeden Moment muss die Schießerei ja beginnen, wer weiß, was dann alles geschieht! Vor kurzem liefen auch hinter ihrem Haus noch Uniformierte mit Panzerfäusten vorbei. Auf der anderen Straßenseite haben sich einige ganz junge Kindersoldaten hinter den Bodenluken versteckt, wie Schulkinder, die etwas ausgefressen haben. Ja zur Schule gingen sie vor einigen Tagen noch. Hitlers letztes Aufgebot! Welch ein Irrsinn!

Die unheimliche Stille wird von einer Stimme im schummerigen Keller unterbrochen: „Otto ist noch oben!“ Otto, das ist der Ostpreuße, der vor wenigen Wochen als Flüchtling bei Possehls untergekommen war. Otto haben sie schon im ersten Weltkrieg zum Krüppel geschossen. Wirklich, Otto fehlt in ihrer Runde! Sie schauen die Treppe hinauf und horchen. Doch zu sehen ist nichts von ihm und oben bleibt alles still.

Lotti Possehl wagt sich daraufhin gar bis zur Haustür und blickt scheu hinaus. Nein, auch dort ist nichts zu hören. Aber sie sieht, nicht weitab, den braungestrichenen Panzer mit dem großen roten Stern stehen, der, so meint sie, seine dicke Kanone direkt auf sie gerichtet hat. Also nichts wie zurück und runter in den Keller!

Plötzlich hörten sie Otto rufen. Ganz gewiss, das ist seine Stimme! Er ruft etwas, aber es ist nicht zu verstehen. Was ist los? Schon wieder lässt er sich hören und nun bekommen sie es auch unten am Kellereingang mit. Er schimpft! Und das lauthals. Schimpft er etwa auf die Russen? Das hat doch keinen Zweck. Zwar haben die Laager den Krieg schon lange satt, aber das muss er lassen! Die russischen Soldaten bei dem Panzer konnten doch meinen, es gilt ihnen! Vielleicht verstehen die gar deutsch. Lotti Possehl fegt ärgerlich die Treppe hinauf. Sie braucht seiner Stimme ja nur nachzugehen, um Otto zu finden. Oben in der Giebelstube liegt er halb aus dem Fenster, der Tüsche zum Nebenhaus zu. „Weg mit euch!“- Verschwindet! — Er ruft es noch eins. Lotti begreift, er meint wohl gar nicht die Russen. „Hau ab, du Dussel— du jagst uns noch alle zusammen in die Luft! –- Mach das du wegkommst!“ Das gilt jemanden, der sich unten in der Nische zum Nachbarn hin versteckt hat. Das kann kein Russe sein. „Otto, laß ihn doch und halt endlich dein Maul“, ruft Lotti ihm noch von der Treppe aus zu. „Komm doch zu uns in den Keller! Du bölkst ja so laut, dass die noch auf uns schießen!“ Aber Otto will nicht mit ihr kommen. Er ist böse, sehr böse! „Der Hund da unten ist es doch, der den ganzen Feuerzauber auslösen soll“, zischt er.  „Siehst du das nicht ein? Komm und schau selber nach, was uns blüht!“ Lotti fasst sich ein Herz und beugt sich nun auch kurz über die Fensterbrüstung. Mit einem Blick begreift sie, was dort unten vorgeht. Da liegt so ein junger Schlacks am Eingang zur Tüsche, in Braunhemd, dunkler Bluse und Hose und mit einer Hakenkreuzarmbinde – eine Panzerfaust im Anschlag. Bunte Kordeln, das weiß man, weisen ihn als einen der Anführer der Hitlerjugend aus. Er wartet darauf, dass die Panzer noch ein Stück vorfahren, so dass er sie schräg von der Seite zu fassen bekommt. Sein Schuss mit der Panzerfaust soll das Signal zum Widerstandskampf sein. Die Tür zur Tüsche hat er ausgehängt. Das ist es, was Lotti besonders erbost. Soweit ist es nun schon gekommen, dass die einfach in ihrem eigenen Haus Krieg machen!

Wieder ruft nun Otto dem dort unten zu, er soll sofort durch den Garten verduften. Denn, wenn er schießt, geht womöglich die Tankstelle nebenan in die Luft und dann gute Nacht, dann können sie uns nicht mal mehr begraben. Der junge Mann unten in den schmalen Tüschen blickt sich um, schaut nach oben und ruft: „Hab Befehl! Ich muss hier aushalten, bis die Panzer vorrücken!“ Otto weist ihm den Vogel: „Lauf schnell nach Haus, Jung, zu deiner Mutti! Und dann: „Mach Schluss, du Affe du!“  Er wendet sich Lotti zu: „Wenn der Blödhammel nicht abzieht, ist es mit uns allen vorbei!“ Er schnappt vor Aufregung nach Luft, dann schnauft er: „Lotti, wir müssen was gegen diese Heinis unternehmen!“ Auch die hat längst begriffen, hier geht es um Leben oder Tod. Nicht allein für den Hitlerjungen dort draußen, nein, für sie alle, zumindest hier neben der Tankstelle und auch für die Nachbarn in der Teterower Straße. Wird der Russe dann nicht die ganze Stadt niederbrennen, so wie es in Malchin und Neubrandenburg geschehen ist?! Ja, man müsste was tun, jetzt gleich, auf der Stelle! Aber was?

Hören will der HJ- Führer ja nicht. Lotti sieht sich um. Wenn nichts anderes hilft, denkt die Frau, muß man ihm eben etwas ins Genick werfen, um ihn zu vertreiben. Aber was? Sie hat nichts, was sich dazu eignet. O doch! Ihr Blick fällt auf den Toiletteneimer, der noch neben dem Bett steht. Oma ist es in der letzten Nacht übel ergangen. Das ganze Abendessen ist ihr nicht bekommen. Als sie vorhin in den Keller gebracht wurde, konnte niemand mehr daran denken, hier aufzuräumen. Wer hatte dazu Zeit an solch einem Tag! Ein Griff und sie hat den Toiletteneimer schon vor sich auf dem Fensterbrett. „Du Miststück bringst uns noch alle zusammen um!“ Sie ruft es dem Hitlerjugendführer erbost zu. Der sieht sich erschrocken nach seinem neuen Gegner um und zu ihr hinauf. Im gleichen Augenblick trifft ihn die ganze Ladung voll ins Gesicht. Das war nun doch zu viel für ihn! Ein Schießeisen hatte er nicht, um sich zu rächen und so verschwand er wie ein geölter Blitz in dem verwinkelten Hofgelände und in den Gärten dahinter. Seine Panzerfaust lässt er liegen, zum Glück für Lotti! Mit Otto hängt sie schnell die Tüschentür wieder ein. Im Keller sind sie nun sicher, denn die Hoftür des Hauses hatten sie schon vorher fest verrammelt. Jetzt rasseln die Russenpanzer los. Sie haben Verstärkung erhalten. Zugleich rücken andere Truppen von der Bahnhofsseite in die Stadt ein. Kein Schuss fällt. Die Volksstürmer warten vergebens auf das Signal ihres Hitlerjugendführers und verkrümeln sich nun beizeiten, während hier und da verängstigte Gesichter an den Fenstern erscheinen und andere entschlossen weiße Fahnen hinaushängen. Unten im Keller holt man erleichtert tief Luft. Nun war ja wohl dieser Krieg überstanden, wenigstens das Schlimmste abgewehrt.

In der Tat wäre es für die Stadt mit ihren Tausenden von Flüchtlingen böse ausgegangen, wenn Lotti Possehl nicht in letzter Sekunde Omas Toiletteneimer zur Hand gehabt hätte!

#Geschichte

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