Der 1. Mai 1945: Tage, Wochen und Monate danach
Der 1. Mai 1945 war kein gewöhnlicher Tag für die Einwohner von Laage. Er wiederholt sich in diesem Jahr zum 76. Mal. Ich erlebte diesen Tag im Alter von fast 10 Jahren. Schon frühmorgens schien die aufgehende Sonne in die St.- Jürgen – Straße hinein. Es bahnte sich eigentlich ein schöner Tag an, als dann aber einige Menschen unserer Straße in Richtung Bahnhofstraße eilten und dabei riefen: „Die Russen sind bereits in Teterow“, schreckten auch wir auf. Schnell bepackten auch wir unsere Fahrräder mit den nötigsten Sachen und begaben uns mit einigen Nachbarn auf den Weg in den Liessower Wald, denn sollte die Parole stimmen, dann müssten die Russen innerhalb der nächsten 2 bis 3 Stunden in Laage sein. So ist es dann auch gekommen. Die ersten Panzer kamen gegen 9 Uhr aus Richtung Teterow kommend in Laage an. Die am Ortseingang errichtete Panzersperre wurde nicht geschlossen und das war gut so, denn die nicht verschlossene Sperre hat die Stadt vor größeren Zerstörungen bewahrt. Bereits einige Stunden zuvor fuhren wir mit unseren bepackten Fahrrädern in Richtung Bahnhof.
An der Ecke zur Bahnhofstraße wurden wir vom Molkereibetreiber Bolzendahl angehalten, um sein vollbeladenes Auto anzuschieben, da es nicht anspringen wollte. Da ein vereintes Anschieben auch keine Hilfe brachte, zogen wir weiter in Richtung Liessower Wald. Es war kurios, aber auch beängstigend, denn hoch oben auf dem Bahndamm bildeten wir eine wunderbare Zielscheibe für die auf der Straße in Richtung Laage fahrenden Panzer. Aber wir kamen unbeschadet im Wald an. In einer Waldsenke lagerten Soldaten der deutschen Wehrmacht, die uns aber empfahlen, den Wald wieder zu verlassen, da sie bereits aus der Luft von russischen Aufklärungsflugzeugen ins Visier genommen wurden. Wir sollten aus Sicherheitsgründen lieber in unsere Wohnungen zurückkehren. Das taten wir dann auch. In unserer Wohnung hatten es sich die Rotarmisten inzwischen bequem gemacht und bedienten sich von unseren Vorräten aus dem Keller. Sie zeigten keinerlei Scheu und langten tüchtig zu. Während die Panzersoldaten sich noch zurückhielten, waren die nachfolgenden Fußtruppen umso schlimmer. Da sich in unserer Wohnung inzwischen etwa 20 Frauen und Mädchen aufhielten, zeigten sie sich als hemmungslose Vergewaltiger. Auch bedienten sie sich der vielen sich bietenden Begehrlichkeiten. Sie entdeckten auch sofort ein auf unserem Hühnerhof in die Erde verlegtes Versteck mit vielen Sachen, die man gerne behalten hätte. Aber für uns galt es, lieber am Leben zu bleiben, als auf das Beharren von vergänglichen Dingen zu bestehen. Nach einigen Tagen beruhigte sich die Lage in meiner direkten Umgebung. Unsere zeitweiligen Mitbewohner kehrten in ihre Wohnungen im Zentrum der Stadt zurück. Dafür quartierten sich für einige Tage Offiziere der Roten Armee bei uns ein. Dadurch hatten wir Schutz und Ruhe und vor allen Dingen gut zu essen. Meine Mutter musste zwar für die Offiziere kochen, brauchte dafür aber nicht mehr früh morgens antreten, um „Wiedergutmachungsdienste“ für ihre Mitgliedschaft in der NS-Frauenschaft zu leisten.
Wir Jugendliche hatten uns schnell an diese Situation gewöhnt, denn in unserem Alter brauchten wir keine Befürchtungen zu haben, dass uns die Rotarmisten etwas antun würden. Meine damaligen Spielgefährten und Schulfreunde waren Gerhard und Lieselotte Pinnow, zwei Geschwister aus der damaligen Großfamilie Pinnow, Dieter Baade, Jürgen Buhk, die Gebrüder Horst und Fredi Siggelkow und Harri Peters. Bis auf Gerhard Pinnow waren wir etwa alle im gleichen Alter. Gerhard Pinnow, der Älteste von uns, auch „Pongo“ genannt, war unser Schutzpatron und Anführer. Da die Schule noch bis zum Herbst geschlossen war, hatten wir genügend Zeit uns umzusehen. So suchten wir in den ersten Maitagen verlassene Orte und Häuser auf, um nach brauchbaren Dingen zu sehen. So gelangten wir auch zu den Garagen an der ehemaligen Tankstelle in der Breesener Straße. Mit großer Hartnäckigkeit brachen wir die großen Garagentore auf und siehe da, es war eine Fundgrube für uns. Neben großen Schmalzballen und Säcken mit Zucker, fanden wir dort Radios und Spielsachen aller Art. Nun war jedoch ein unauffälliger Abtransport gefragt. Dazu nutzten wir ein an der Ecke zum Denkmalsweg abgestelltes kaputtes Auto. Es diente als Zwischendepot für die von uns tragbar gemachten Pakete. Mit einem von zu Hause geholten Ziehwagen erfolgte dann der Abtransport. Unsere Aktivitäten wurden jedoch schnell entdeckt und viele Nachahmer fanden sich ein. Aber auch die Kommandantur wurde aktiv. Sie ließ ein Auto mit Mikrofon auffahren und verkündete: „Alle entwendeten Sachen sofort zurückzubringen“. Trotz der Drohungen blieben wir „cool“ und brachten nichts zurück. Ein anderer „Besuchsort“ von uns war die Villa Korff. Wir wussten zu der Zeit noch nicht, dass sich Frau und Herr Korff das Leben genommen hatten.
Eingedrungen in die Villa sind wir über den Hinterhofbereich des Hauses. Die Türen standen weit offen und wir fühlten uns damit eingeladen, weil auch keiner auf unsere Anwesenheit reagierte. In den Räumen herrschte noch Ordnung und weitestgehend Unberührtheit, und zwar so, als hätten die Hausbesitzer gerade das Haus verlassen und die vor uns bereits dagewesenen Russen hätten vor lauter Ehrfurcht in der Bibliothek keine Gegenstände berührt. In der Tat, auch wir waren überrascht von diesem Anblick. Die mit Stuckelementen versehene Decke und die bis zur Decke reichenden Schränke, Borten und Regale waren voller Bücher aller Art, große und kleine, in ledergebundene oder einfach gebundene Ausführungen. So etwas hatten wir bisher noch nicht gesehen. Da uns kein Mensch störte, benutzten wir die Zeit unseres Daseins ausgiebig für eine intensive Bücherschau. Am Ende unseres Besuchs ließen wir dann auch einige Bücher „mitgehen“. Man kann uns heute dafür sicherlich noch rügen, aber auch noch verzeihen, denn wir waren fast noch Kinder.
Auf unseren täglichen Streifzügen gelangten wir auch in den Bereich der Laager Stadtscheunen in der Pinnower‑Straße. Der Anblick der dort in den Scheunen untergebrachten Menschen war erschreckend. Auf Stroh gebettet lagen dort Menschen unterschiedlichsten Alters, von Krankheiten verschiedenster Art befallen und hoffend auf Gesundung. Als die Eltern von unserem dortigen Aufenthalt erfuhren, verboten sie uns den weiteren Besuch, denn die Ansteckungsgefahr vieler Krankheiten war groß. Einige Zeit danach wurde die gesamte Scheunenanlage abgesperrt. Ganz schlimm war für uns, als wir aufgefordert wurden, an einer Hinrichtung auf dem Marktplatz teilzunehmen. Die Teilnahme wurde für alle Einwohner der Stadt zwangsverordnet. In der Laager Stadtchronik heißt es dazu: „So liefen in den ersten Maitagen von der Kommandantur eingesetzte Hilfspolizisten durch die Straßen der Stadt und forderten die Einwohner auf, zur Vollstreckung eines Urteils auf dem Marktplatz zu erscheinen. Niemand wusste bis dahin, worum es sich dabei handelte. Aus Angst vor Bestrafungen durch deutsche bzw. russische Behörden, befolgten viele Bürger diese Anweisung. Auf weitere Aussagen zu diesem Thema möchte ich, wenn es auch schon 75 Jahre her ist, verzichten. Es bleibt aber dennoch ein ganz trauriger und tragischer Vorfall der Laager Stadtgeschichte.
Ein weiteres Ereignis, in dem meine Familie, das heißt mein Vater involviert war, möchte ich noch nennen, und zwar will ich eine in der Laager Chronik enthaltene Aussage personifizieren. In der Chronik heißt es: „Der KGB verhaftete acht ältere Bürger und transportierte sie in die Lager nach Fünfeichen bei Neubrandenburg, Sachsenhausen oder Buchenwald“. Es ist zwar nur eine Vermutung von mir, dass einer davon mein Vater war, denn er war mit dem Sägewerksbesitzer Max Bremer für eine kurze Zeit nach Fünfeichen gebracht worden. Sie konnten diesen Ort aber bereits nach 2 Tagen wieder verlassen, da ihnen keine „Untaten“ nachgewiesen werden konnten. Zu Fuß nahmen sie den Marsch nach Laage auf sich. Glücklich in Laage wieder angekommen, meldeten sie sich bei der Kommandantur und erhielten den Auftrag zwei wichtige Betriebe wieder betriebsfähig zu machen, und zwar das Sägewerk von Max Bremer und das Dachziegelwerk der Firma Katze. Für meinen Vater war dies jedoch der Beginn seines letzten Lebensweges. Da die Dachziegelherstellung ohne besonderen Schutz erfolgte, waren die Arbeiter ständig dem Zementstaub ausgesetzt. Die Folge war eine unheilbare Staublunge, an der er 1948 starb.
Ein Erlebnis anderer Art sei noch genannt. Es ist die direkte Begegnung mit einer Hundertschaft der Roten Armee im Laager Stadtpark, unmittelbar in der Nähe des damaligen Denkmals. Im Mittelpunkt der Truppe stand eine Gulaschkanone, in der ein Reiseintopf angerichtet wurde. Es roch damals super und verlockend und es dauerte dann auch nicht lange, bis wir zum Essen eingeladen wurden. Zwischen den Rotarmisten sitzend, aßen wir dann mit ihnen auf russische Art und Weise den Reiseintopf.
Ein weiteres Ereignis sei noch genannt.
In den ersten Nachkriegswochen herrschte plötzlich bei uns zu Hause eine riesige Aufregung, denn wir sollten in kürzester Frist unsere Wohnung verlassen und in das Haus gegenüber einziehen. Unsere Straßenseite wurde von der Kommandantur zum Lazarett für leicht verwundete oder in Genesung befindlichen Soldaten erklärt. Nur wenige Gegenstände konnten wir mitnehmen. Es war aber, Gott sei Dank, nur von kurzer Dauer. Doch während dieser Zeit hatten wir interessante Begebenheiten mit den Rotarmisten. Auf der Grünfläche zwischen den Häusern St.- Jürgen – Straße 21 und dem nächsten Haus in Richtung Bahnhofstraße hielten sich die verwundeten Soldaten auf, qualmten ihre selbstgedrehten Zigaretten und beschäftigten sich mit Lesen und Schachspielen. Wir tüftelten mit einigen von ihnen über kleine mögliche Geschäfte, und zwar
boten wir eine Tabakmischung an, bestehend aus Tabakblättern,- stängeln und Bohnenkraut. Das Bohnenkraut diente als Beimischung zur Vergrößerung der Verkaufsmenge. Als Gegenleistung erhielten wir Schokolade, Bonbons und Kekse. Das Geschäft florierte recht gut, doch unsere Tabakreste waren schnell aufgebraucht. Im Spätherbst 1945 hieß es dann plötzlich: „Die Schule geht wieder los“. Durch Flucht und Vertreibung hatte sich die Anzahl der Schüler enorm vergrößert. Weitere Klassenräume mussten eingerichtet werden. So wurde auch die Villa Korff in den Schulbetrieb mit einbezogen. Mein Geburtenjahrgang bezog zunächst als 3. und 4. Klasse den ehemaligen Bibliotheksraum, im rechten Gebäude gelegen. Danach zogen wir ins große linke Nachbargebäude. In diesem Klassenraum, mit einer großen Fensterfront zur Straße, erlebten wir noch einen ganz schrecklichen Anblick, den ich in meinem bisherigen Leben nicht verdrängen konnte. Ein Pferdefuhrwerk, es könnte Ludwig Deicke gewesen sein, fuhr ohne Verdeck mit Leichen beladen die Straße entlang in Richtung Friedhof. Erblasst und tief erschüttert nahmen wir diesen Anblick, gewollt oder ungewollt, zur Kenntnis.
Als Klasse 5c, erstmalig als gemischte Klasse, hatten wir unseren Klassenraum dann wieder im rechten Gebäude oben mit kleineren Fenstern. Es war eine kleine Klasse, die sich vorwiegend aus Schülerinnen und Schülern zusammensetzte, die in Laage geboren wurden. Eine nähere Klassenbeschreibung hatte ich bereits in anderen Beiträgen vorgenommen.
Mit der Wiederaufnahme des Schulbetriebes ergaben sich für uns Schulkinder wieder völlig neue Bedingungen im Tagesablauf. Der Vormittag und teilweise der Nachmittag gehörte nun wieder ganz der Schule. Neben den täglichen Unterrichtsstunden kamen das Kräutersammeln im Herbst und der außerschulische Sport dazu. Die sich entwickelnde Kinderlandbewegung und die Aktivitäten der Jungen Gemeinde erforderten im Tagesablauf ihre Berücksichtigung. Letztlich sei aber noch daran erinnert, dass wir in den Herbstwochen, falls wir noch Zeit fanden, zum Bahnhofsberg zogen, um dort die Verladungen von Rüben aller Art, von Kartoffeln und Kohl zu beobachten und bei entsprechenden Gelegenheiten zuzuschlagen. Die Taktik der Beschaffung war ganz einfach. In den Pausen bei der Beladung der Waggons gingen die Verlader bzw. die Bauern in die Bahnhofsgaststätte, aßen dort ihr Frühstück, während wir indessen zur Tat schritten. Zwei bis drei Jungs kletterten auf den Eisenbahnwaggon, warfen die Produkte herunter und zwei weitere Jungens brachten es den Berg hoch. Hier wurde alles geteilt und über die angrenzenden Waldwege und über den Ückerweg nach Hause gebracht. Hochbegehrt waren besonders die Zuckerrüben, denn mit selbst gebauten Pressen wurde heimlich Sirup hergestellt.
Quellen: Meine persönlichen Erinnerungen
Laager Stadtchronik von 1989 (Peter Zeese)
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